Titel der Studie:
Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung von Sexualstraftätern nach Entlassung aus dem Strafvollzug
Autor oder Herausgeber:
Keßler, A. & Rettenberger, M.
Erscheinungsjahr:
2017
Sprache:
Deutsch
Publikationsart:
Wissenschaftliche Fachzeitschrift (mit Peer Review)
Studie online veröffentlicht?
Nein
Sicherheitsmanagement (SIMA)
Ambulante Behandlung
Förderverein der Bewährungshilfe in Hessen e.V.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Abteilung Sozial- und Rechtspsychologie; Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden
Hessisches Ministerium der Justiz; Förderkreis Kriminologie und Strafrechtspflege e.V. (Anschlussprojekt)
von 2014/01 bis 2016/01
Deutschland
Hessen
Landgerichtsbezirke der Städte: Darmstadt Frankfurt Fulda Gießen Hanau Kassel Limburg Marburg Wiesbaden
Im Rahmen der Evaluation wurden Sexualstraftäter, die über das SIMA psychotherapeutisch versorgt wurden (n=134) mit Sexualstraftätern, die nicht über das SIMA versorgt wurden (n=134) hinsichtlich der Rückfälligkeit verglichen. Das mittlere Alter betrug 40,4 Jahre und 266 der Probanden waren männlich. Der Nachbeobachtungszeitraum betrug im durchschnitt 3,7 Jahre, mindestens 2,1 Jahr eund maximal 5,2 Jahre (gemessen ab der Haftentlassung bis zum Tag der Durchführung des Matching-Verfahrens). Um eine Vergleichbarkeit beider Gruppen herzustellen wurde ein sogenanntes Matching-Verfahren eingesetzt. Dabei wird für jeden Therapieprobanden ein Proband der Kontrollgruppe („Zwilling“) ermittelt, der ein möglichst ähnliches Rückfallrisiko aufweist. Zu den relevanten Risikofaktoren zählen das Anlassdelikt, das Alter und der Nachbeobachtungszeitraum.
Zur beschriebenen Evaluation liegt sowohl ein unveröffentlichter Projektbericht (Keßler & Rettenberger 2016*) als auch ein wissenschaftlich publizierter Fachartikel (Keßler & Rettenberger 2017) vor. Da sich beide Arbeiten auf dieselbe Studie beziehen, werden diese hier zusammengefasst. Bei Abweichungen wurden die Angaben des aktuelleren Fachartikels berücksichtigt.
*Keßler, A. & Rettenberger, M. (2016). Evaluation der psychotherapeutischen Versorgung von Probanden des Sicherheitsmanagements in Hessen - Abschlussbericht.
Direkte Effektmaße
Sekundärdaten: Quelle der Daten
Die Rückfälligkeit wurde anhand von Einträgen im Bundeszentralregister (BZR) und in der Mehrländer-Staatsanwaltschafts-Automation (MESTA) gemessen. Im BZR sind verurteilte Straftaten erfasst und die MESTA gibt Auskunft über angezeigte Straftaten. Es wurde jeweils differenziert betrachtet, mit welchem Delikt ein Proband rückfällig wurde. Hierfür wurde zwischen den folgenden Rückfallarten differenziert: Allgemeiner Rückfall, Nicht-sexueller Gewaltrückfall, Sexueller Rückfall, Sexueller Gewaltrückfall und allgemeiner Gewaltrückfall.
Zusätzlich wurden für die Studie von MitarbeiterInnen des SIMA relevante Protokolle und Dokumente (z.B. Fallkonferenzprotokolle und Stammdatenblätter) zur Verfügung gestellt
„Die erste Rückfalldatenquelle [MESTA] wurde im Oktober 2014 übermittelt. [...] Aus den zur Verfügung gestellten MESTA-Daten konnten somit alle laufenden Ermittlungsverfahren gegen Probanden der Stichprobe entnommen werden, die ab dem 01.01.2010 bis zum 29.10.2014 […] innerhalb Hessens eingeleitet worden waren.“ (S. 32)
„Die zweite Rückfalldatenquelle [BZR] wurde im September 2015 übermittelt. [...] Aus den BZR-Daten konnten somit alle bundesweit rechtskräftig erfolgten Wiederverurteilungen der
Untersuchungspersonen bis einschließlich Mai bzw. Juni 2015 […] entnommen […] werden.“ (S. 33-34)
Bezugsgröße / Maßstab für den Effekt der Maßnahme
Mit dem Zustand vor Beginn der Maßnahme.
Mit einer Kontrollgruppe.
Erläuterungen
Die Rückfallraten der Teilnehmer der Maßnahme wurden verglichen mit den Rückfallraten von Probanden, die nicht über das SIMA psychotherapeutisch versorgt wurden. Einige dieser Kontrollprobanden erhielten keine Behandlung, andere hingegen nahmen an psychotherapeutischer oder anderer Behandlung unabhängig vom SIMA teil.
Im Rahmen des Matching-Verfahrens wurden bei der Suche nach geeigneten „Zwillingsprobanden“ einige Ungenauigkeiten toleriert. Beispielsweise wurde hinsichtlich des Anlassdelikts nur zwischen den Ausprägungen „Erwachsenes Opfer“ und „Kind als Opfer“ unterschieden. Die genauen Tatbestände sowie die Schwere der Delikte blieben also unberücksichtigt. Auch hinsichtlich des Alters wurden Abweichungen von bis zu 10 Jahren zugelassen. Die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen hinsichtlich dieser Merkmale wurde allerdings in einem zweiten Schritt statistisch geprüft und es fanden sich keine signifikanten Unterschiede.
Nicht repräsentative und qualitative Auswahlverfahren
268
0
0%
0
Anzahl der Personen:
Keine Angabe
Rate:
Keine Angabe
Insgesamt lagen Daten zu 193 Maßnahmeteilnehmern vor, bei denen der Beobachtungszeitraum ausreichend lang war. Von den 193 Maßnahmeteilnehmern mussten 57 Personen ausgeschlossen werden (z.B. weil nicht mehr im System des SIMA auffindbar, weil das Anlassdelikt keine Sexualstraftat war). Für die Vergleichsgruppe lagen Daten für insgesamt 810 Probanden vor, von denen allerdings 362 aufgrund unterschiedlicher Vorgaben für das Matching-Verfahren ausgeschlossen wurden (z.B. zu kurzer Beobachtungszeitraum, Anlassdelikt war keine Sexualstraftat oder war unbekannt). Es konnten für 134 der 136 behandelten Probanden ein passende Zwilling gefunden werden. Die Gesamtstichprobe umfasst damit insgesamt 268 Probanden; das entspricht 26,7% aller 1.003 Probanden, für die generell Daten vorlagen.
Eine Besonderheit liegt für die Auswertung der BZR-Auszüge vor:
„Von acht Untersuchungspersonen konnte aufgrund von unklaren Pseudonymisierungen, die im Zuge der […] datenschutzrechtlichen Vorgehensweise erstellt worden waren, keine nachweislich korrekte Zuordnung von Studienproband und BZR-Auszug erfolgen. Diese acht Fälle mussten daher von der Auswertung der BZR-Rückfalldaten ausgeschlossen werden.“ Somit ergab sich für die Auswertung der BZR-Einträge eine Stichprobe von 260 Probanden.
Dichotom
Für nominal abhängige Variablen
Odds/Odds Ratio
normal, annähernd normal
Laut Einschätzung der Autoren kann "In Bezugnahme auf die in den Tabellen 1 und 2 dargestellten Resultate [...] insgesamt von einem positiven Effekt des Versorgungsprogramms im Hinblick auf die Rückfälligkeit der untersuchten Probanden gesprochen werden" (S. 49). Deskriptiv zeigt sich außer beim nicht-sexuellen Gewaltrückfall laut BZR bei allen abhängigen Variablen ein Vorteil zu Gunsten der Behandlungsgruppe. Jedoch erreichen nur zwei Gruppenunterschiede statistische Signifikanz - der sexuelle Gewaltrückfall und der allgemeine Gewaltrückfall nach den MESTA-Daten. Mit Blick auf die einzelnen Ergebnisse kann die Frage nach der kriminalpräventiven Wirksamkeit daher nicht eindeutig beantwortet werden.
Das Risiko, mind. zwei Jahre nach Behandlungsbeginn wegen irgendeines Gewaltdelikts oder eines sexuell motivierten Gewaltdelikts angezeigt zu werden ist unter Teilnehmern der Maßnahme nur etwa halb (jeweils OR =.45) so hoch wie unter unbehandelten bzw. unabhängig vom SIMA behandelten Sexualstraftätern.
Für Anzeigen wegen anderer Delikte (irgendein Delikt, nicht-sexuelles Gewaltdelikt, sexuell motiviertes Delikt) sowie für Verurteilungen (gilt für alle Delikt- bzw. Rückfallkategorien) wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen ermittelt.
Abhängig von der Datenquelle (BZR bzw. MESTA) werden relativ unterschiedliche Ergebnisse erzielt:
Rückfälligkeit nach MESTA (Behandlungsgruppe vs. Kontrollgruppe):
• Allgemeiner Rückfall: 37,3% vs. 44,0%; χ² = 1.25; p = .26; OR = .76
• Nicht sexueller Gewaltrückfall: 6,0% vs. 12,7%; χ² = 3.57; p = .06; OR = .44
• Sexuell motivierter Rückfall: 18,6% vs. 25,4%; χ² = 1.76; p = .19; OR = .68
• Sexuell motivierter Gewaltrückfall: 9,7% vs. 19,4%; χ² = 5.07; p = .02; OR = .45
• Allgemein gewalttätiger Rückfall: 14,2% vs. 26,9%; χ² = 6.61; p = .03; OR = .45
Rückfälligkeit nach BZR (Behandlungsgruppe vs. Kontrollgruppe):
• Allgemeiner Rückfall: 30,5% vs. 34,1%; χ² = 0.38; p = .54; OR = .85
• Nicht sexueller Gewaltrückfall: 8,4% vs. 7,0%; χ² = 0.19; p = .67; OR = 1.22
• Sexuell motivierter Rückfall: 9,2% vs. 9,3%; χ² = .00; p = .97; OR = 98
• Sexuell motivierter Gewaltrückfall: 5,3% vs. 7,0%; χ² = 0.30; p = .58; OR = .75
• Allgemein gewalttätiger Rückfall: 10,7% vs. 13,2%; χ² = 0.38; p = .54; OR = .79
Probanden, die zuvor intramural behandelt worden waren (z.B. im einer Sozialtherapie oder im Maßregelvollzug) konnten von der Versorgungsstruktur des SIMA stärker profitieren.
Probanden unter Bewährungsaufsicht hatten mehr allgemeine, sexuelle sowie sexuell gewalttätige Rückfälle als Personen unter Führungsaufsicht.
Ansatz/Maßnahme reduziert Kriminalität in ihrem Wirkungsbereich im geringen Umfang [+]
Für zukünftige Forschungsarbeiten:
Hier empfehlen die Autoren größere Stichproben sowie längere Nachbeobachtungszeiträume.
Praxis:
Die Autoren weisen außerdem darauf hin, dass sich die Behandlungswirksamkeit möglicherweise durch regelmäßige und möglichst umfassende Weiterbildungsangebote für niedergelassene PsychotherapeutInnen steigern ließe. Außerdem fordern sie eine noch breitere Anwendungspraxis des sogenannten „Risk, Need, Responsitivity (RNR)“ Modells (vgl. Andrews & Bonta, 1990, 2010).
Ein Teil der Vergleichsgruppe hat ebenfalls (u.a. deliktorientierte) Behandlung erhalten, von deren Wirksamkeit ausgegangen wird. Dies muss bei der Interpretation der ermittelten, zum Teil geringen), Gruppenunterschiede berücksichtigt werden.
Stufe 1: Die Studie benennt ein klares überprüfbares Untersuchungsziel (oder dieses Ziel ist offensichtlich), beschreibt aber nicht dessen methodische Operationalisierung.
Stufe 2: Der methodische Zugang ist geeignet für das Untersuchungsziel der Studie. Es gibt keine (oder kaum) evaluationspraktische Hindernisse bei der Evaluation.
Stufe 2: Die Studie benennt theoretische Annahmen über die Wirkungsweise der Präventionsmaßnahme und stellt einen ausreichenden Bezug zu deren empirischen Überprüfung her.
Stufe 2: Zufallsstichprobe ist repräsentativ für eine größere Teilgruppe innerhalb des gesamten Adressatenkreises der evaluierten Maßnahme (bspw. alle Schüler ab 15 Jahre in NRW), aber es gab stichprobenverzerrende Probleme beim Samplingverfahren (bspw. zu geringe Stichprobe (n< 30), zu geringe Teilnehmerquoten oder großer Stichproben-Fehler.
Stufe 5: Multimethodal - Die Studie verwendet theoretisch verankerte und empirisch bewährte Messinstrumente und setzt mindestens zwei verschiedenen Methoden zur Messung der Effektgröße ein (ein Instrument mindestens Stufe 3 und ein weiteres Instrument mindestens Stufe 1).
Stufe 3: Wie Stufe 2, aber es erfolgt eine kritische und offene Auseinandersetzung über die Verletzung von Annahmen sowie deren Auswirkung auf die Ergebnisse. Die dargestellten Ergebnisse sind bei Berücksichtigung ihrer offen dargelegten Einschränkungen nicht weiter angreifbar.
Stufe 2: Angemessene, reflektierte und sachliche Interpretation der Ergebnisse; selbstkritische Reflexion möglicher Grenzen und Einschränkungen der Ergebnisse.
Stufe 2: Unabhängige Evaluation durch externe Einrichtung/Person ohne erkennbaren Interessenkonflikt.
„Das Ziel der Studie bestand in der Evaluation der Behandlungswirksamkeit und Effizienz (d.h. dem Verhaltnis zwischen Kosten und Nutzen) der psychotherapeutischen Versorgung von Probanden des SIMA in Hessen“ (Keßler & Rettenberger 2016, S. 3). Zwar wurde in der Studie die Wirksamkeit untersucht, allerdings wird dem Aspekt der Effizenz nicht nachgegangen (obwohl explizit als Ziel formuliert).
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